Was sie nicht wusste by Nicci French

Was sie nicht wusste by Nicci French

Autor:Nicci French [French, Nicci]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C. Bertelsmann Verlag
veröffentlicht: 2019-12-15T23:00:00+00:00


5

DAS GARTENFEST

Es war noch dunkel, als Neve Renata in ein Taxi bugsierte, und es nieselte ein wenig.

Und jetzt? Sie setzte sich in Bewegung, wusste jedoch nicht so recht, in welche Richtung sie gehen sollte, und wünschte, sie hätte ihre Wanderstiefel angezogen. Sie musste nach Hause, aber dieses Zuhause kam ihr gerade unendlich weit entfernt vor, als hätte sie es schon vor langer Zeit verlassen. Bestimmt lagen dort alle noch im Bett, im Tiefschlaf. Sie wusste genau, wie ihre Lieben schliefen: welche Körperhaltung sie dabei einnahmen und wie ihr Gesicht aussah, wenn sie träumten.

Sie selbst fühlte sich nach den Strapazen dieser Nacht todmüde. Trotzdem schwirrten ihr wirre, bruchstückhafte Gedanken durch den Kopf. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Whisky zu füttern. Dann musste sie an Rorys Geburtstag denken: Vielleicht sollten sie alle zusammen das Naturkundemuseum besuchen. Dort ging er doch so gerne hin. Mabel wäre zu dem Zeitpunkt allerdings schon an der Uni. Neve fragte sich, ob das jetzt überhaupt noch im Bereich des Möglichen lag.

Der Himmel hatte sich inzwischen etwas aufgehellt, doch dafür regnete es stärker. Neve wurde klar, dass sie sich von ihrem Zuhause weg statt darauf zu bewegte. Vor ihr lag das Marschland der Themsemündung. Sie verlangsamte ihren Schritt zu einem ziellosen Schlendern. Ihr fiel wieder ein, was Renata über Saul gesagt hatte: dass er ein Mann gewesen sei, der es gewohnt war zu bekommen, was er wollte. Neve ging davon aus, dass es vor ihnen beiden etliche andere Frauen gegeben hatte. Er war ein notorischer Fremdgeher gewesen. Bestimmt hätte es nach ihr auch wieder andere gegeben. Sie selbst hatte ihre Affäre als eine freudvolle Auszeit von den Sorgen und Nöten ihres täglichen Lebens betrachtet, doch rückblickend kam ihr das alles nur noch schäbig vor. Sie fand inzwischen sogar Saul selbst – Saul mit seiner Ironie, seiner Eleganz, seinem Lachen und seiner Art, sie anzusehen, als wäre sie die schönste Frau der Welt – irgendwie schäbig und schmierig. Aber sie hatte mitgemacht. Sie, Neve, die Mutter, die Ehefrau, das Arbeitstier und die gute Freundin, die alle für so offen und vertrauenswürdig hielten. Einen Moment stellte sie sich die Reaktionen vor, wenn ihr heikles Geheimnis herauskäme und alle erfahren würden, was sie getan hatte – die Fassungslosigkeit und die Schadenfreude: Neve Connolly! Wer hätte das von ihr gedacht?

Sie blieb stehen. Der Saum ihres Kleides war nass, und an ihren Schuhen klebte Schlamm. Wasser lief ihr übers Gesicht. Ein paar Meter von ihr entfernt saß ein Reiher reglos auf einem Pfahl, wie in Stein gemeißelt. Ihre Gedanken rasten: Wenn sie zur Polizei ging, würde auch Mabel angeklagt. Sie käme ins Gefängnis. Ging sie aber nicht zur Polizei, standen sie bestimmt früher oder später bei ihr vor der Tür, und je länger sie wartete, desto schlimmer wurden die Konsequenzen. Ihr Geheimnis war wie ein Monstrum, das in der Dunkelheit immer größer wurde. Sie musste an Hitchings durchdringenden Blick denken, an die Art, wie er sie immer fixierte, ohne zu blinzeln. Was wusste er über sie? Über Mabel?

Der Reiher breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft.



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